ARCHIV

"Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns" (Franz Kafka)

Für Franz Kafka war das Lesen von Büchern von existentieller Bedeutung, so beschrieb er dies in einem Brief an Oskar Pollak, 27. Januar 1904 mit folgenden Worten:

 
" Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.”

 

Bücher berühren uns, verändern unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit und den Blick auf die Welt. Bücher können unsere Gedanken aufbrechen. 

Das Leitthema der Lesereihe Eins | Mai 2024 bis Oktober 2024.

  • Über Menschen, die das Sterben der Zukunft in ihrer Gegenwart erleben.  Osteuropäische Perspektiven.


Das Leitthena der Lesereihe Zwei  November 2024 bis April 2025


  • Wann werden Frauen Menschen sein? Wir gehen der Frage nach, auf welchem gesellschaftlichen Nährboden geschlechtsspezifische Gewalt gedeiht und wie sie wirkt. 
Literatur in Wersten | Mein Lesekreis

7. Mai 2024

 
Der Aufstieg eines Verbrecherhelden zwischen Gewalt, Eleganz und Laster, seiner Verletzlichkeit als Jude. Die Handlung spielt in der Warschauer Unterwelt der späten 1930er-Jahre – geprägt von skrupellosen Schutzgeldeintreibern, brutalen Killern, käuflichen Journalisten, Geldschiebern und Waffenhändlern. 

Der Boxer von Szczepan Twardoch

Am Anfang steht ein Boxkampf: Zwei Männer aus gegensätzliche Milieus kämpfen im Warschau des Jahres 1937 gegeneinander. Der Pole und Katholik Andrzej Ziembinski ist blond und groß, „wie die deutschen Sportler, arische Halbgötter auf den Fotos und Zeichnungen, die man manchmal in den Illustrierten fand.“ Sein Gegner Jakub Shapiro ist polnischer Jude, „anders schön als Ziembinski, eine gleichsam finstere Art von Schönheit.“ Shapiro triumphiert – und verschafft der geschundenen Seele seines jüdischen Publikums Genugtuung.

Jakub Shapiro ist ein hoffnungsvoller junger Boxer und überhaupt sehr talentiert. Das erkennt auch der mächtige Warschauer Unterweltpate Kaplica, der Shapiro zu seinem Vertrauten macht. Doch rechte Putschpläne gegen die polnische Regierung bringen das Imperium Kaplicas in Bedrängnis; er kommt in Haft, als ihm ein politischer Mord angehängt wird. Im Schatten dieser Ereignisse bricht ein regelrechter Krieg der Unterwelt los. Jakub Shapiro muss die Dinge in die Hand nehmen: Er geht gegen Feinde wie Verräter vor, beginnt – aus Leidenschaft und Kalkül – eine fatale Affäre mit der Tochter des Staatsanwalts, muss zugleich seine Frau und seine Kinder vor dem anschwellenden Hass schützen – und nimmt immer mehr die Rolle des Paten ein. 

Literatur in Wersten | Mein Lesekreis

4. Juni 2024

Seit zehn Jahren herrscht Krieg im Osten der Ukraine. Im Donbas. Ein Krieg, der zu Beginn von der ukrainischen Regierung "Anti-Terror-Operation" genannt wurde und von dem die russische Regierung anfangs behauptete, es sei ein innerukrainischer Konflikt, ein Bürgerkrieg.

Serhij Zhadan schildert, wie sich die vertraute Umgebung in ein unheimliches Territorium verwandelt. Er erzählt von trotzigen Menschen, die der Angst und Zerstörung ihre Selbstbehauptung und ihr Verantwortungsgefühl entgegensetzen. Seine Auseinandersetzung mit dem Krieg im Donbass findet mit seinem Roman "Internat" ihren vorläufigen Höhepunkt. 

Internat von Serhij Zhadan

(Die Originalausgabe erschien 2017, die deutsche Ausgabe 2018))

Ein junger Lehrer will seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt nach Hause holen. Die Schule, in der seine berufstätige Schwester ihren Sohn "geparkt" hat, ist unter Beschuss geraten und bietet keine Sicherheit mehr. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag. Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr sehen zu können als den milchigen Nebel, in dem gelbe Feuer blitzen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, öfter als am Tag zuvor. Paramilitärische Trupps, herrenlose Hunde tauchen in den Trümmern auf, apathische Menschen stolpern orientierungslos durch eine apokalyptische urbane Landschaft.

Literatur in Wersten | Mein Lesekreis

2. Juli 2024

„Groß ist das Land, in dem Suleika lebt. Groß und rot wie Ochsenblut.“ 

Stalins Jahrhundertverbrechen

Vor 94 Jahren ordnete der sowjetische Diktator Stalin die Enteignung und Deportation der "Kulaken" an. Es folgte eine Hungersnot, die bis zu 15 Millionen Menschen tötete. 

Suleika öffnet die Augen von Gusel Jachina

Original: Сулейка открывает глаза 

Ljudmila Ulitzkaja. 1930 in der Nähe von Kasan: Suleika ist eine tatarische Bäuerin. Eingeschüchtert und rechtlos lebt sie auf dem Hof ihres viel älteren Mannes. Ihr Weg zu sich selbst führt durch die Hölle: das Sibirien der von Stalin Ausgesiedelten. Ein anrührendes und meisterhaftes Debüt, das in 31 Sprachen übersetzt ist. Mit fünfzehn wurde Suleika verheiratet. Vier Kinder hat sie ihrem erheblich älteren Mann geboren. Alle hat sie bald beerdigen müssen. Für ihren Mann und ihre fast hundertjährige herrische Schwiegermutter ist sie nichts als eine Arbeitskraft von geringem Wert. Da bricht ein neues Unglück über sie herein: Die Familie wird enteignet, ihr Mann erschossen. Sie kommt auf den monatelangen Transport nach Sibirien. Unterwegs entdeckt sie, dass sie wieder schwanger ist. Sie muss beim Aufbau einer Siedlung fernab aller Zivilisation mitarbeiten und findet dort endlich die wahre Liebe. „Dieser Roman ist ein literarisches Meisterwerk, das sich auf sorgfältig recherchierte historische Tatsachen stützt. 

Literatur in Wersten | Mein Lesekreis

6. August 2024 


Wer Äußerstes erlebt hat, ist auch Äußerstes zu tun im Stande.

Fegefeuer von Sofi Oksanen

 Als Aliide Tru, eine alte Frau, die allein in einem Bauernhaus auf dem estnischen Land lebt, ein Bündel in ihrem Garten findet, das sich als junge Frau entpuppt, schluckt sie ihre Skepsis und Menschenverachtung herunter und nimmt Zara in ihr Haus auf. Zara ist auf der Flucht vor ihren Zuhältern, die sie mit brutalster Gewalt zu Willfährigkeit gezwungen haben und ihr schon dicht auf den Fersen sind. Doch Zara sucht keineswegs so zufällig Unterschlupf bei Aliide, wie diese glaubt: Aliide könnte die Schwester ihrer Großmutter sein.

Während Zara noch Beweise für die Verwandtschaft sucht und nach einer Möglichkeit, Estland zu verlassen, fühlt sich Aliide von der jungen Frau bedroht: Zu oft musste sie Leib und Seele, Hab und Gut vor Eindringlingen schützen. In Rückblenden entsteht das immer schärfer werdende Bild einer Familientragödie, die fast fünfzig Jahre zuvor, als Estland von den Russen besetzt wurde, ihren Höhepunkt fand. Rivalität und Eifersucht, Scham, Schutzbedürftigkeit und vor allem Angst vor der Brutalität der Männer gegenüber den Frauen – das sind die Motive, die Aliide zu unvorstellbaren Entscheidungen zwangen. Sofi Oksanen gelang mit diesem Roman, der in 38 Ländern erschien, der große Wurf. 

Atemlos vor Spannung liest man über das Schicksal zweier Frauen, die ganz unterschiedliche und im Kern doch vergleichbare Erfahrungen machen: Egal welches politische System auch herrscht, Opfer sind immer die Frauen. 

Literatur in Wersten | Mein Lesekreis

3. September 2024 

Sozialistischer Realismus

Das Birnenfeld

Folgen sie der Autorin in eine Welt, die ebenso von Mitgefühl wie von Brutalität geprägt ist: In eine Welt der Heimkinder am Rand von Tiflis. 

So mörderisch Lelas Hass auf den Geschichtslehrer, so schwesterlich ihr Verhältnis zu Irakli: Sie begleitet ihn in eine Hochhauswohnung in der Nachbarschaft, wo er einmal in der Woche mit seiner Mutter in Griechenland telefonieren darf. Irakli will nicht wahrhaben, was Lela längst weiß: Seine Mutter wird nie zurückkehren, sie wird ihn auch nicht zu sich holen. 

Literatur in Wersten | Mein Lesekreis

1. Oktober 2024 

 Der Roman „Die Baugrube“ ist in seiner ergreifenden Merkwürdigkeit einzigartig in der Literaturgeschichte.

Die Baugrube | Andrej Platonow

Original: Котлован 

Sinnbild des Scheiterns | Ein sozialistischer Beckett 

Eine neue, bessere Welt für alle Menschen zu schaffen, das war die Verheißung der sowjetischen Utopie. Der rückständige Agrarstaat sollte laut Stalin in kürzester Zeit in die Moderne katapultiert und seine Bewohner zu "Neuen Menschen" erzogen werden. 

Arbeiter heben eine gigantische Grube für ein Hochhaus aus: Es soll Platz für die Bevölkerung einer ganze Stadt bieten. Mit Szenen, die an Beckett erinnern, dekonstruiert Andrej Platonow in seinem Roman von 1930 die sozialistische Utopie. 

 Wer sich verstärkt für die Kultur und Geschichte der Sowjetunion interessiert, dem kann man diesen Roman, parodisch und poetisch zugleich, als paradigmatisches Werk empfehlen. Ein Werk ohnegleichen. Durchdrungen von einer Phraseologie der Sowjetbürokratie. Das Buch galt als unübersetzbar.

5. November 2024
>> Du schlägst mich tot, aber du kommst mir nicht nahe. <<

BLAUSCHMUCK | Katharina Winkler

Katharina Winklers Debütroman 'Blauschmuck' beruht zur Gänze auf wahren Begebenheiten. Er macht die Abgründe von Abhängigkeit und brutaler Unterdrückung anschaulich und erzählt vom Leben einer Frau, in dem Liebe und Gewalt nicht nur untrennbar, sondern nicht mehr zu unterscheiden sind. 

Der Blauschmuck ist ein Geschenk der Männer. Sie verteilen ihn großzügig. Nahezu jede Frau in dem kurdischen Tal in der Türkei, in dem das Mädchen Filiz aufwächst, trägt ihn; einige um den Hals wie ein Medaillon, andere Frauen um die Fesseln oder das Handgelenk. Das Blau gibt es in allen Schattierungen – von sehr hell bis fast schwarz. Der Farbton ist abhängig davon, mit welchem Werkzeug die Männer auf ihre Frauen einschlagen – ob mit Holzlatten oder Eisenstangen.

3. Dezember 2024

 Nach fünf harmonischen Ehejahren begehrt Yeong-Hye auf: Die Protagonistin von „Die Vegetarierin“ beschließt, kein Fleisch mehr zu essen. Von den massiven Folgen dieser Entscheidung erzählt der preisgekrönte Roman der koreanischen Schriftstellerin Han Kang. 

Die Vegetarierin | Han Kang | Nobelpreis für Literatur 2024

»Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie für nichts Besonderes. Bei unserer ersten Begegnung fand ich sie nicht einmal attraktiv. Mittelgroß, ein Topfschnitt, irgendwo zwischen kurz und lang, gelbliche unreine Haut, Schlupflider und dominante Wangenknochen. So fühlte ich mich weder von ihr angezogen noch abgestoßen und sah daher keinen Grund, sie nicht zu heiraten.«

14. Januar 2025 

 Wie Frauenleben in einer patriarchalen Gesellschaft aufs Minimalmaß zurechtgestutzt werden, erzählt die südkoreanische Autorin Cho Nam-Joo in ihrem millionenfach verkauften Roman. 

Kim Jiyoung, geboren 1982 | Cho Nam-Joo 

(Originaltitel: 82년생 김지영) 


Eine rebellierende Reflexion des Frauseins in Korea über drei Generationen einer Familie, mit all den Degradierungen, Demütigungen und Übergriffigkeiten, die damit verbunden sind. 

>>Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.<<

Immanuel Kant

* 22. April 1724, † 12. Februar 1804