ARCHIV

7. Mai 2024

 
Der Aufstieg eines Verbrecherhelden zwischen Gewalt, Eleganz und Laster, seiner Verletzlichkeit als Jude. Die Handlung spielt in der Warschauer Unterwelt der späten 1930er-Jahre – geprägt von skrupellosen Schutzgeldeintreibern, brutalen Killern, käuflichen Journalisten, Geldschiebern und Waffenhändlern. 

Der Boxer von Szczepan Twardoch

Am Anfang steht ein Boxkampf: Zwei Männer aus gegensätzliche Milieus kämpfen im Warschau des Jahres 1937 gegeneinander. Der Pole und Katholik Andrzej Ziembinski ist blond und groß, „wie die deutschen Sportler, arische Halbgötter auf den Fotos und Zeichnungen, die man manchmal in den Illustrierten fand.“ Sein Gegner Jakub Shapiro ist polnischer Jude, „anders schön als Ziembinski, eine gleichsam finstere Art von Schönheit.“ Shapiro triumphiert – und verschafft der geschundenen Seele seines jüdischen Publikums Genugtuung.

Jakub Shapiro ist ein hoffnungsvoller junger Boxer und überhaupt sehr talentiert. Das erkennt auch der mächtige Warschauer Unterweltpate Kaplica, der Shapiro zu seinem Vertrauten macht. Doch rechte Putschpläne gegen die polnische Regierung bringen das Imperium Kaplicas in Bedrängnis; er kommt in Haft, als ihm ein politischer Mord angehängt wird. Im Schatten dieser Ereignisse bricht ein regelrechter Krieg der Unterwelt los. Jakub Shapiro muss die Dinge in die Hand nehmen: Er geht gegen Feinde wie Verräter vor, beginnt – aus Leidenschaft und Kalkül – eine fatale Affäre mit der Tochter des Staatsanwalts, muss zugleich seine Frau und seine Kinder vor dem anschwellenden Hass schützen – und nimmt immer mehr die Rolle des Paten ein. 

4. Juni 2024

Seit zehn Jahren herrscht Krieg im Osten der Ukraine. Im Donbas. Ein Krieg, der zu Beginn von der ukrainischen Regierung "Anti-Terror-Operation" genannt wurde und von dem die russische Regierung anfangs behauptete, es sei ein innerukrainischer Konflikt, ein Bürgerkrieg.

Serhij Zhadan schildert, wie sich die vertraute Umgebung in ein unheimliches Territorium verwandelt. Er erzählt von trotzigen Menschen, die der Angst und Zerstörung ihre Selbstbehauptung und ihr Verantwortungsgefühl entgegensetzen. Seine Auseinandersetzung mit dem Krieg im Donbass findet mit seinem Roman "Internat" ihren vorläufigen Höhepunkt. 

Internat von Serhij Zhadan

(Die Originalausgabe erschien 2017, die deutsche Ausgabe 2018))

Ein junger Lehrer will seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt nach Hause holen. Die Schule, in der seine berufstätige Schwester ihren Sohn "geparkt" hat, ist unter Beschuss geraten und bietet keine Sicherheit mehr. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag. Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr sehen zu können als den milchigen Nebel, in dem gelbe Feuer blitzen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, öfter als am Tag zuvor. Paramilitärische Trupps, herrenlose Hunde tauchen in den Trümmern auf, apathische Menschen stolpern orientierungslos durch eine apokalyptische urbane Landschaft.

2. Juli 2024

„Groß ist das Land, in dem Suleika lebt. Groß und rot wie Ochsenblut.“ 

Stalins Jahrhundertverbrechen

Vor 94 Jahren ordnete der sowjetische Diktator Stalin die Enteignung und Deportation der "Kulaken" an. Es folgte eine Hungersnot, die bis zu 15 Millionen Menschen tötete. 

Suleika öffnet die Augen von Gusel Jachina

Original: Сулейка открывает глаза 

Ljudmila Ulitzkaja. 1930 in der Nähe von Kasan: Suleika ist eine tatarische Bäuerin. Eingeschüchtert und rechtlos lebt sie auf dem Hof ihres viel älteren Mannes. Ihr Weg zu sich selbst führt durch die Hölle: das Sibirien der von Stalin Ausgesiedelten. Ein anrührendes und meisterhaftes Debüt, das in 31 Sprachen übersetzt ist. Mit fünfzehn wurde Suleika verheiratet. Vier Kinder hat sie ihrem erheblich älteren Mann geboren. Alle hat sie bald beerdigen müssen. Für ihren Mann und ihre fast hundertjährige herrische Schwiegermutter ist sie nichts als eine Arbeitskraft von geringem Wert. Da bricht ein neues Unglück über sie herein: Die Familie wird enteignet, ihr Mann erschossen. Sie kommt auf den monatelangen Transport nach Sibirien. Unterwegs entdeckt sie, dass sie wieder schwanger ist. Sie muss beim Aufbau einer Siedlung fernab aller Zivilisation mitarbeiten und findet dort endlich die wahre Liebe. „Dieser Roman ist ein literarisches Meisterwerk, das sich auf sorgfältig recherchierte historische Tatsachen stützt. 

6. August 2024 


Wer Äußerstes erlebt hat, ist auch Äußerstes zu tun im Stande.

Fegefeuer von Sofi Oksanen

 Als Aliide Tru, eine alte Frau, die allein in einem Bauernhaus auf dem estnischen Land lebt, ein Bündel in ihrem Garten findet, das sich als junge Frau entpuppt, schluckt sie ihre Skepsis und Menschenverachtung herunter und nimmt Zara in ihr Haus auf. Zara ist auf der Flucht vor ihren Zuhältern, die sie mit brutalster Gewalt zu Willfährigkeit gezwungen haben und ihr schon dicht auf den Fersen sind. Doch Zara sucht keineswegs so zufällig Unterschlupf bei Aliide, wie diese glaubt: Aliide könnte die Schwester ihrer Großmutter sein.

Während Zara noch Beweise für die Verwandtschaft sucht und nach einer Möglichkeit, Estland zu verlassen, fühlt sich Aliide von der jungen Frau bedroht: Zu oft musste sie Leib und Seele, Hab und Gut vor Eindringlingen schützen. In Rückblenden entsteht das immer schärfer werdende Bild einer Familientragödie, die fast fünfzig Jahre zuvor, als Estland von den Russen besetzt wurde, ihren Höhepunkt fand. Rivalität und Eifersucht, Scham, Schutzbedürftigkeit und vor allem Angst vor der Brutalität der Männer gegenüber den Frauen – das sind die Motive, die Aliide zu unvorstellbaren Entscheidungen zwangen. Sofi Oksanen gelang mit diesem Roman, der in 38 Ländern erschien, der große Wurf. 

Atemlos vor Spannung liest man über das Schicksal zweier Frauen, die ganz unterschiedliche und im Kern doch vergleichbare Erfahrungen machen: Egal welches politische System auch herrscht, Opfer sind immer die Frauen. 


3. September 2024 

Sozialistischer Realismus

Das Birnenfeld

Folgen sie der Autorin in eine Welt, die ebenso von Mitgefühl wie von Brutalität geprägt ist: In eine Welt der Heimkinder am Rand von Tiflis. 

So mörderisch Lelas Hass auf den Geschichtslehrer, so schwesterlich ihr Verhältnis zu Irakli: Sie begleitet ihn in eine Hochhauswohnung in der Nachbarschaft, wo er einmal in der Woche mit seiner Mutter in Griechenland telefonieren darf. Irakli will nicht wahrhaben, was Lela längst weiß: Seine Mutter wird nie zurückkehren, sie wird ihn auch nicht zu sich holen.