Nicht vergessen reicht nicht!

 Erinnern statt nicht vergessen !

Literatur in Wersten | Mein Lesekreis
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Ein Pin-Up Foto klebt auf einem Leichenberg 

Die vielleicht signifikanteste künstlerische Arbeit Luries ist als Cover für den Roman eingesetzt worden. Ein Pin-Up Foto klebt auf einem Leichenberg, wie man ihn vor dem Krematorium nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald fand. 

Radikal provozierend

Bobby ist in New York regelmäßig zu Gast - oder sollte man besser sagen: gefangen? - im »Haus von Anita« und lässt sich dort zusammen mit drei weiteren Männern von den Gebieterinnen des Hauses zur sexuellen Befriedigung quälen und misshandeln. Was auf der Oberfläche wie ein pornographischer S/M-Roman wirkt, ist auf einer anderen Ebene die provokante Darstellung der Nazigräuel.
Ruth Klüger hat in der detailgenauen Darstellung der Lager die Gefahr einer »Pornographie des Todes« gesehen. Wie ein auf die Spitze getriebener Beweis ihrer provokanten These liest sich dieser Text, an dem Boris Lurie mehr als 40 Jahre arbeitete. Auch er war ein Überlebender der Shoah und er war Mitbegründer der NO!art-Bewegung, die sich vor allem gegen die Pop Art und eine selbstgefällige Konsumgesellschaft wendet.
Die industrielle Zerstörung der Körper in den Lagern wird hier bis zur Unerträglichkeit mit ihrer kulturindustriellen Vernutzung durch Konsum, Kommerz und Pornographie verschränkt. Lurie verarbeitet in diesem Buch nicht nur seine Erfahrung der KZs, sondern fragt auch mit schockierender Eindringlichkeit nach der Bedeutung der Kunst nach der Shoah. Eine Lektüre, die erlitten und nicht genossen werden will. 


Klappentext Wallstein Verlag (2021)

Eine Lektüre, die erlitten und nicht genossen werden will. Eine Lektüre, die jedes Maß an Vorstellungskraft übertrifft. 

 Lektürenotiz  von Horst G. Flämig 


Wie in einer Doppelbelichtung werden unauflösliche Fiktions- und Realitätsebenen von Holocaust und Pornografie übereinander montiert. Zunächst ein abscheuliches Gräuel-Konstrukt für den unbefangenen Leser. Sado-Maso und Endlösung. Eine unsägliche Verzahnung. Das Ineinander von Pin-Up und Judenstern irritiert, macht aggressiv. Ein literarisches Werk, das man nicht vorbehaltlos akzeptieren will. Ist es überhaupt Literatur? Ist es die Verarbeitung eines Traumas, einer seelischen Last? Es ist eine Lektüre, die streckenweise abstößt, mitunter anekelt. Und auf eine erschreckende Weise einen abgründigen Sog erzeugt. Dürfen diese Spiegelungen den Kosmos der Holokaust-Mahnmale verlassen? Dürfen sie sich in einem Konsumartikel, einem Buch, wiederfinden? In diesem obszönen Kontext?

An dieser Stelle ist es geboten, darauf hinzuweisen, dass die verschlungene Vielschichtigkeit des Romans der Collagetechnik, den mehrschichtigen Installationen eng verwandt ist, deren der Künstler Lurie sich erfolgsgekrönt bedient hat. 

Jedoch sei auch folgende Randbemerkung erlaubt. Hätte der Göttinger Wallstein Verlag, der zu den führenden geisteswissenschaftlichen Wissenschaftsverlagen im deutschen Sprachraum gehört, das Buch veröffentlicht, wenn nicht der Künstler Boris Lurie es kreiert hätte? Ist die Veröffentlichung eine willentliche Hinzielung auf einen Affront? 


Die Bemühungen des Lesers, diesen Roman zu verstehen, gelingen kaum. Man muss deshalb unbedingt einen Blick auf die Biografie von Boris Lurie werfen, um dem Narrativ näher kommen zu können.

Das zweifelsfrei große künstlerische Werk von Boris Lurie findet in dem Roman nicht seine Fortsetzung, wie ich meine. Trotzdem kann man sich nur schwerlich diesem schockierenden und unerträglichen Machwerk entziehen. Die Lektüre muss immer wieder zur Seite gelegt werden. Atem schöpfen. Ein Vergnügen ist die Erzählung partout nicht. Dennoch befürworte ich, sich auf den Autor und auf den Künstler Boris Lurie einzulassen. Sich dem Menschen Boris Lurie zu nähern. Auch wenn diese Annäherung Aufschrei und Protest herausfordern. Auch wenn der Text rohe Bilder produziert, die im Gedächtnis, im Kopf emporflammen.

Boris Lurie wurde 1924 in Leningrad geboren. Die Familie siedelte über ins unabhängig gewordene Lettland, nach Riga. 1940 mit dem Hitler-Stalin-Pakt wurde Lettland eine Sowjetrepublik. 1941 marschierten die deutschen Truppen ein. Fünfundzwanzigtausend Juden wurden im Rumbula-Wald nahe Riga ermordet. Darunter Luries Mutter, Großmutter, Schwester und seine Jugendliebe. Sein Vater und er überlebten als Zwangsarbeiter in Konzentrationslagern in Lettland und Deutschland. Zuletzt in einem Außenlager in Buchenwald. Nach der Befreiung durch die Amerikaner  wanderten beide in die USA aus. Dort begann Lurie seine künstlerische Karriere. 

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Boris Lurie

Boris Lurie, geb. 1924 in Leningrad, gestorben 2008 in New York, war bildender Künstler und Autor. Als Mitbegründer der NO!art-Bewegung schuf er provokante und mitunter extreme Collagen, Skulpturen und Texte, in denen er die Ermordung der Juden in den Kontext von Werbung, Politik und Pornographie stellte. So verarbeitete er seine eigene Erfahrung der Lager, die er zusammen mit seinem Vater überlebte.
Seine Werke wurden in den USA und in Deutschland in mehreren Ausstellungen gezeigt, zuletzt 2016 unter dem Titel »Keine Kompromisse« im Jüdischen Museum in Berlin und 2017 in Nürnberg.

Foto: Lida Moser. © Boris Lurie Art Foundation 


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Eine visuelle Werkschau mit Essays zum Künstlerischen Gesamtwerk Boris Luries und Bildern der Ausstellung im Zentrum für verfolgte Künste.

Zeit seines Lebens stand die Kunst von Boris Lurie unter dem Eindruck des Verlusts seiner jüngeren Schwester, seiner Jugendliebe, seiner Mutter und Großmutter. Gemeinsam mit 27.500 anderen Jüdinnen und Juden wurden sie am 8. Dezember 1941 von den Nationalsozialisten im Kiefernwald von Rumbula bei Riga ermordet. Lurie selbst überlebte mit seinem Vater die Shoa. Beide gingen 1946 nach New York, wo sich Lurie als Künstler etablierte. Als eine Reaktion auf den Abstrakten Expressionismus und die entstehende POP-Art rief er zusammen mit Gleichgesinnten 1959 die NO!art-Bewegung aus. In diesem Anti-POP attackiert Lurie die amerikanische Konsumgesellschaft und verarbeitet seine KZ-Erfahrungen.
Das Zentrum für verfolgte Künste in Solingen hat eine umfassende Werkschau zusammengestellt, von den frühen Zeichnungen der War-Series, den Fetisch-Bildern der Love-Series, bis zu den schmerzhaften Porträts der ermordeten Mutter, Schwester und Geliebten. Im Katalog hat Jürgen Kaumkötter alle gezeigten Werke arrangiert und Essays von Experten und Expertinnen versammelt, die sich mit der Wechselwirkung von Roman und bildender Kunst Luries, den Einflüssen des Naziploitation-Kinos der 1970er Jahre auf sein Werk, dem literarischen Kontext von israelischen Stalag-Groschenheften bis zu dem Buch »Die 120 Tage von Sodom« des Marquis de Sade befassen und versuchen, eine Einordnung in die sogenannte Holocaust-Kunst vorzunehmen.

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Bewegende Erinnerungen Luries an seine Zeit während des Nationalsozialismus in Riga

Im Spätsommer des Jahres 1975 bestieg Boris Lurie in New York ein sowjetisches Schiff, um nach Riga zu fahren und damit nach über 30 Jahren wieder in die Stadt zu kommen, in der er aufgewachsen war und wo er die Schrecken der deutschen Besatzungszeit hautnah miterleben musste. Insbesondere ein Geschehnis änderte dabei den Lauf seines Leben, als im Dezember 1941 im Wald von Rumbula Tausende Juden hingerichtet wurden, darunter Familienmitglieder Luries sowie seine damalige Freundin. Luries Leben teilte sich in ein vor und ein nach Rumbula, und sein Besuch dieses Ortes während seiner Reise führte auch dazu, dass er mit dem Schreiben begann und darüber in den Dialog mit denjenigen, die nicht mehr da waren.
Nach Luries Tod entdeckte man in seinem Nachlass mehrere Boxen, gefüllt mit schriftlichen Aufzeichnungen und Zeitungsausschnitten. Aus Riga zurückgekommen, hatte Lurie damit begonnen, seine Erinnerungen an Riga während des Zweiten Weltkriegs niederzuschreiben, aber auch die Empfindungen während seiner Reise festzuhalten. Ein berührender Text, der
die Frage aufwirft, wie man danach weiterleben kann.

Keine Kompromisse! 

Das Jüdische Museum Berlin widmete Boris Lurie und seiner radikalen künstlerischen Auseinandersetzung mit dem 20. Jahrhundert 2016 eine große Retrospektive.

 Im Zentrum der künstlerischen Arbeit von Boris Luriesteht die Auseinandersetzung mit der Realität der US-amerikanischen Massenmedien, die alle kritischen Inhalte aufsaugen und relativieren. Lurie  nutzt die Bildtechniken der Printmedien (darunter insbesondere der Zeitschriften, Zeitungen und Plakate), um der permanenten Manipulation entgegen zu wirken. Schlimmer als die erlebten Verbrechen war es für ihn, die Gleichgültigkeit seiner  Zeitgenossen und den Zynismus der amerikanischen „Affluent Society“ zu ertragen. Lurie entschied sich für eine die Realität aufbrechende Kunst, die den Betrachter mit Fakten und Phänomenen der Gewalt konfrontiert, ihn ohne Erklärung und Sinnstiftung zurücklässt und ihn so zu einer Stellungnahme zwingt.

https://www.jmberlin.de/ausstellung-boris-lurie 

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Jakow Wintschenko

Soldat der Roten Armee, die das Vernichtungslager Auschwitz am 27. Januar 1945 befreite 

"Es war kein Wachtraum, ein lebender Toter stand mir gegenüber. Hinter ihm waren im nebligen Dunkel Dutzende anderer Schattenwesen zu erahnen, lebende Skelette. Die Luft roch unerträglich nach Exkrementen und verbranntem Fleisch. Ich bekam Angst, mich anzustecken, und war versucht wegzulaufen. Und ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ein Kamerad sagte mir, wir seien in Auschwitz. 

Es war uns klar, dass etwas Schreckliches über diesem Ort lag: Wir fragten uns, wozu all die Baracken, die Schornsteine und die Räume mit den Duschen gedient hatten, die einen seltsamen Geruch verströmten. Ich dachte an ein paar Tausend Tote – nicht an Zyklon B und das Ende der Menschlichkeit."