Über die Zerrissenheit von Frauen zwischen Familie und Beruf
Halbe Leben
Susanne Gregor
Susanne Gregor erzählt in ihrem neuen Roman "Halbe Leben" eine Geschichte, die den Nerv der Zeit trifft: Klara, verheiratet mit Jacob und Mutter der zehnjährigen Ada, ist erfolgreich und erfüllt in ihrem Job. Als Mutter fühlt sie sich oft überfordert, glücklicherweise übernimmt ihre Mutter Irene oft die Kinderbetreuung. Doch dann schlägt das Schicksal zu: Irene hat einen Schlaganfall, die Familie gerät in einen Strudel aus Überforderung. Wer kümmert sich um Irene? Und wer um Ada? Und wie soll Klara weiter die Familie ernähren, wenn sie jetzt zu Hause gebraucht wird?
Klara ist tot, beim Wandern abgestürzt. Bei ihr war nur Paulína, eine Slowakin, die Klara nach dem Schlaganfall ihrer Mutter eingestellt hat. Endlich war die Mutter versorgt gewesen. Klara konnte sich wieder ihrer Karriere widmen, ihr Mann seine Freiheit genießen. Paulínas eigene Kinder wurden in der Zwischenzeit in der Slowakei von der Schwiegermutter betreut. Alles wunderbar organisiert, alles ganz einfach. Alle mochten Paulína, dankten ihr mit großzügigen Geschenken für Dienste und Extradienste. War man nicht eigentlich sogar schon befreundet?
In einer klaren, unprätentiösen Sprache widmet sich Susanne Gregor den großen Themen, die uns alle betreffen, und erzählt von der Ungleichheit – zwischen zwei Frauen, zwischen zwei Leben.
"Halbe Leben wurde LiWe zur Rezension vom Zsolnay Verlag, Wien, zur Verfügung gestellt.
Die ersten Sätze
Der Anfang des Romans ist ergreifend. Klara ist beim Wandern abgestürzt. Sie ist tot. Paulína, eine Slowakin, die Klara einige Monate zuvor eingestellt hat, da ihre Mutter Irene nach einem Schlaganfall Hilfe braucht, war mit Klara unterwegs und konnte nichts mehr für sie tun.
Es ist ein stiller Tod. An einem sonnigen Mainachnachmittag um vierzehn Uhr siebenunddreißig stürzt Klara an einer unscheinbaren Böschung fünfzig Meter in die Tiefe. Sie gibt keinen Laut von sich, zu hören ist nur ein schnelles Rascheln der Blätter, es könnte auch ein Reh sein, das davonläuft. Unten ein dumpfer Aufprall, dann Stille. An der Stelle, an der sie bis eben noch stand, nichts als ein paar dünne Zweige, brauner Boden, ein Baumstumpf, darauf Ringe, die nach außen hin immer heller werden. Wie ruhig Klaras Gesicht gewesen ist in diesem letzten Moment, wie angstlos, wird Paulína später denken.
Aber noch hält sie sich an einem mit Moos bedeckten Baum fest, beugt sich über den Abhang, von dem sie weiß, wie steil er ist. Ruft ein paar Mal Klaras Namen, wartet auf eine Antwort, holt ihr Handy aus der Tasche, sieht, dass es keinen Empfang hat, kann sich aber an eine Lichtung erinnern, die sie vorhin passiert haben und an der sie ihr Display gecheckt hat. Sie lässt den Baum los, reibt ihre feuchte Hand ab und macht ein paar Schritte in die Richtung, aus der sie eben gekommen sind. Sie weiß, dass jetzt womöglich jede Sekunde zählt, dass sie eigentlich laufen sollte, aber sie kann nicht. Ihre Beine sind schwer, ihr Gang ist langsam, die Bäume hier sehen alle gleich aus, es ist, als würde sie auf der Stelle treten.
Susanne Gregor
Foto © Heribert Corn | Zsolnay
Susanne Gregor, geboren 1981 in Žilina (Tschechoslowakei), zog 1990 mit ihrer Familie nach Österreich und lebt heute in Wien. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschienen die Romane »Das letzte rote Jahr« (2019), »Wir werden fliegen« (2023) und bei Zsolnay »Halbe Leben« (2025).
Halbe Leben ist ein feinfühliger Roman, der die Zerrissenheit von Frauen zwischen Beruf und Familie beleuchtet. Eine Studie über Fremdheit und Entfremdung.
Bewertung: 5 von 5 Sternen
Paulína, Slowakin aus der Kleinstadt Prievidza, ausgebildete Krankenschwester und geschiedene Mutter zweier Söhne, ist die Hauptfigur einer Geschichte, die – wie man ganz am Anfang in aller Offenheit erfährt – nicht gut ausgehen wird.
Paulína, die bis dahin immer im Krankenhaus gearbeitet, dann aber ihre beiden Eltern kurz vor deren Tod gepflegt hat, entscheidet sich, als Pflegerin nach Österreich zu gehen, um die finanzielle Situation für sich und ihre beiden Söhne, 16 und 10 Jahre alt, zu verbessern.
In einer ähnlichen Lage befindet sich die genau gleich alte Klara, die Tochter der zu betreuenden, etwa 70-jährigen Irene. Klara ist beruflich äußerst erfolgreich: Sie ist bald Teilhaberin eines gut gehenden Architekturbüros in Salzburg. Klara steckt in einer unglücklichen Ehe. Jakob, ihr Mann und Vater ihrer halbwüchsigen Tochter, ist Fotograf auf Amateurniveau und verfügt über keinen Ehrgeiz, irgendetwas an seiner beruflichen Bedeutungslosigkeit zu ändern.
Die Handlung spitzt sich schließlich folgendermaßen zu: Paulína schafft es nicht, eine gewisse Distanz zu Klara und ihrem Mann zu halten. Sie übernimmt, zuerst freiwillig, dann quasi gezwungenermaßen, Arbeiten im Haus, die nicht zu ihren Aufgaben gehören.
Aber auch Klara und ihr Mann Jakob, begehen entscheidende Fehler, indem sie die Pflegerin zu weit in ihr Leben integrieren, ohne sie wirklich darin aufzunehmen. Besonders schmerzhaft spürt Paulína das auf einer Hausparty, zu deren Vorbereitung sie viel beigetragen hat, auf der sich aber niemand wirklich mit ihr unterhalten möchte, nicht einmal aus Höflichkeit.
Es kommt, wie es kommen muss: Der Neid auf die vermeintlich besser gestellte, westliche Frau wächst und irgendwann ist die viel gestresste Altenbetreuerin, Haushaltshilfe und (Pseudo-)Freundin der Familie am Ende ihrer Kräfte und geht völlig auf Rückzug. Das hat sich aber Klara, die letztlich Paulínas Arbeitgeberin ist, eigentlich nicht so vorgestellt.
Halbe Leben ist eine meisterhaft aufgebaute psychologische Betrachtung, die aktuelle gesellschaftliche Themen tiefgründig behandelt. Eine tiefgehende Erzählung über Menschen und ihr Zurechtfinden in neuen Umgebungen und Konstellationen. Halbe Leben ist eine hochspannende Geschichte über die Balance zwischen persönlichen und beruflichen Verpflichtungen, über Missverständnisse, kulturelle Unterschiede und falsch verstandene Frauenrollen. In Österreich und in der Slowakei.
"Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist nicht die Summe zweier Summanden, sondern eher eine Ungleichung. Aber welche? Wer kennt die Lösung? Bitte schreiben: [email protected]."
horst g. flämig