Preis der Leipziger Buchmesse 2025
HALBINSEL
Kristine Bilkau
Die Bibliothekarin Annett holt ihre Tochter Linn, Mitte 20, nach deren Zusammenbruch zu sich nach Hause, ans Meer, nahe Husum. Aus einer Woche werden zwei, drei Wochen, dann Monate, in denen die beiden Frauen ihr Leben überdenken und neu ausrichten.
Kristine Bilkau zählt zu den wichtigen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur.
Zwei Generationen, zwei Lebenswirklichkeiten.
HALBINSEL
Eine Halbinsel im nordfriesischen Wattenmeer. Hier, an der Nordsee, lebt Annett, Ende vierzig, seit vielen Jahren, hier hat sie nach dem frühen Tod ihres Mannes ihre Tochter Linn allein großgezogen. Linn, Mitte zwanzig, ist nach dem Abitur voller Energie in die Welt gezogen, hat sich in schwedischen und rumänischen Wäldern als Umweltvolontärin engagiert, arbeitet mittlerweile für ein Aufforstungsprojekt. Für Annett ist ihre Tochter die Verkörperung von Hoffnung, Sinn und Zukunft.
Doch auf einer Tagung, während eines Vortrags kippt Linn um, Burn Out, Kreislaufzusammenbruch, Erschöpfung. Annett holt sie für eine Woche zu sich nach Hause, ans Meer, nahe Husum. Aus einer werden zwei, dann drei Wochen, dann Monate. Zerrieben zwischen Leistungsdruck und Sinnsuche, scheint Linn mit Mitte Zwanzig an einem Nullpunkt. Annett fühlt sich hilflos angesichts der Antriebslosigkeit ihrer Tochter. Mit der Zeit brechen Konflikte auf, zwischen Mutter und Tochter, aber auch zwischen zwei Generationen. Die eine muss die Lebenswirklichkeit der anderen neu verstehen lernen.
Der Roman wurde LiWe zur Rezension vom Luchterhand Verlag zur Verfügung gestellt.
KRISTINE BILKAU
Foto © Thorsten Kirves
Kristine Bilkau, 1974 geboren, studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Bereits ihr Romandebüt Die Glücklichen (Luchterhand, 2015) wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Mit ihrem Roman Nebenan (Luchterhand, 2022) stand sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Kristine Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
Die ersten Sätze
Als Linn anderthalb Jahre alt war und laufen gelernt hatte, wollte sie jede Treppe allein hochklettern. Sie zappelte und schrie, sobald ich sie auf den Arm hob, auch an die Hand durfte ich sie nicht nehmen. So viele Male stand ich mit angehaltenem Atem hinter ihr, während sie wie in Zeitlupe Stufe um Stufe hochstieg und dabei gefährlich ins Wanken geriet. Jeden Moment war ich bereit, meine Tochter aufzufangen. Ich sah das Stolpern und Stürzen in grellen Details. Bei dem Gedanken an das Geräusch, den dumpfen Aufprall, kniff ich unweigerlich die Augen zusammen. Mit dem Kind war mit einem Mal eine neue, intensive Vorstellungskraft da.
Es war Ende Mai, ein Samstagvormittag, als Linn einen Schwächeanfall erlitt. Sie hielt einen Vortrag vor größerem Publikum, auf einer Tagung in einem Hotel, da verlor sie das Bewusstsein. Vor den Augen der Leute war sie umgekippt. Ich bekam einen Anruf aus einer Klinik in Nordbrandenburg. »Sind Sie die Mutter von....?«
Preis der Leipziger Buchmesse 2025
Begründung der Jury:
„Leicht nacherzählbar scheint dieses Buch zunächst, doch das ist eine Täuschung. Kristine Bilkau trägt sukzessive Schichten von Fragen ab, die verunsichern. Das unerwartet zusammengeführte Duo aus Mutter und erwachsener Tochter braucht mehr als guten Willen für ein neues Lebensmodell. ‚Halbinsel‘ ist ein sensibel gebauter Roman über emotionale Altlasten, über Großzügigkeit und über das Geschäft mit dem Klima-Gewissen.“
Die Jury Mitglieder
Lektüre Notiz | horst g. flämig
Kristine Bilkaus Roman „Halbinsel“ erzählt ausdruckskräftig von den Grenzen zwischen den Generationen. Es geht um die Beziehung von Mutter und Tochter. Die Bibliothekarin Annett, Ende 40, wird von einer Klinikärztin in Nordbrandenburg angerufen. Ihre Tochter Linn erlitt bei einem Vortrag vor größerem Publikum in einem Hotel einen Schwächeanfall. Sofort fährt Annett, die an ihrem Schreibtisch vertieft in ihre Arbeit saß, zu ihrer Tochter. Kreislaufkollaps, vermutlich durch Deydration, diagnostizierte die Ärztin. Der Sturz habe Prellungen an Kopf und Schulter hinterlassen. Das Angebot der Mutter, nach Hause zu kommen, nimmt die Tochter an.
Dort, auf einer Halbinsel im nordfriesischen Wattenmeer nahe Husum, geraten die Lebenswirklichkeiten der beiden Frauen aus der Spur. Was ist aus der energiegeladenen jungen Frau geworden, die in Schweden und den Karpaten bei Aufforstungsprojekten half, in Edinburgh ihren Bachelor und in Lund ihren Master machte? Wie funktioniert das Leben zu zweit? Kann das Elternhaus noch oder wieder ein Zuhause sein?
Kristine Bilkau schildert spannungsvoll, was ein Zuhause mit zwei Generationen, die beieinander konfliktbeladen leben, macht. Eindringlich und in dichten Begegnungen erzählt sie von den Grenzen zwischen den Generationen, von Abhängigkeitsgefühlen und besorglichen Unentschiedenheiten, von Vertrauenseinbußen.
Mutter und Tochter überdauern auf ihren Halbinseln die nicht leicht zu vereinbarende Sehnsucht, das eigene Leben mit Sinn und Inhalt zu füllen.
Kristine Bilkau hat ein in die Zeit passendes Werk konzipiert, das die Kontroversen zwischen Mutter und Tochter, aber auch die Debatten zwischen zwei Generationen klarlegt. Das Buch lehrt uns, dass ein sorgsamer Verständigungsprozess einsetzen muss. Die Lebenswirklichkeiten des Andersdenkenden müssen erkannt, verstanden und zugestanden werden. Aber auch die eigene Lebenswirklichkeit muss entwirrt und eingelöst werden.
Ein zartfühlender Roman. Traurig und lustig, er macht nachdenklich und gibt Zuversicht.
Bewertung: Vier von fünf Sternen