Patricía Melo

Foto © Júlia Moraes 

Patrícia Melo (*1962 in São Paulo) zählt zu den wichtigsten Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. Nach ihrem Studium in São Paulo arbeitete sie beim Fernsehen. In ihrem sozialkritischen Werk, bestehend aus Kriminalromanen, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern, beschäftigt sie sich mit der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Großstädten. Melo wurde u. a. mit dem Deutschen Krimipreis und dem LiBeraturpreis ausgezeichnet, die Times kürte sie zur »führenden Schriftstellerin des Millenniums« in Lateinamerika. Sie lebt in Lugano.


Getötet, weil sie Frauen waren

 Hass und Gewalt gegen Frauen ist in Brasilien erschreckend alltäglich. 

Die Brasilianerin Patrícia Melo schreibt in ihrem sozialkritischen Roman  „Gestapelte Frauen“ über Femizide in ihrer Heimat. Tief verwurzelt sind diese Morde in der dortigen Gesellschaft und werden von der vorwiegend männlichen Politik geduldet. Ein permanenter Verstoß gegen die Menschenrechte.

Patrícia Melo schreibt über Verbrechen - nicht um ihre Leserschaft  zu unterhalten, sondern um "den Zustand der brasilianischen Gesellschaft zu erfassen."

GESTAPELTE FRAUEN

Originaltitel: Mulheres Empilhadas 

Patricía Melo

Die Protagonistin, eine junge Juristin aus der Metropole São Paulo, hat selbst als Kind erlebt, wie ihr Vater ihre Mutter ermordet hat. Dieses traumatische Erlebnis hat sie allerdings ziemlich verdrängt, bis eines Tages ihr Freund sie in einem Anfall von Eifersucht ohrfeigt. Wie der Zufall es will: Wenige Wochen später wird die Anwältin von ihrer Kanzlei in den Bundesstaat Acre geschickt, ganz im Westen Brasiliens, wo sie als Beobachterin an Gerichtsverhandlungen gegen Frauenmörder teilnehmen soll. Immer näher kommt sie dem Leben der Opfer – den Töchtern, den Müttern, den Freundinnen. Und immer eindringlicher verfolgen sie Bilder aus ihrer Kindheit, Bilder ihrer eigenen Mutter.

Um der Wirklichkeit zu entkommen, flüchtet sie sich in eine Traumwelt – in geheimnisumwirkte Wälder und Flüsse, an die Seite von Amazonen, die die Täter verfolgen. In der Realität aber scheint die Gerechtigkeit unerreichbar. 

Patrícia Melos Roman Gestapelte Frauen ist ein wütendes Buch, das gesellschaftliche Themen wie Gewalt gegen Frauen, Misogynie und die tief verwurzelten patriarchalen Strukturen in Brasilien beleuchtet. Die brasilianische Autorin, bekannt für ihre literarischen und sozialkritischen Werke, entfaltet in diesem Buch eine Geschichte, die gleichzeitig bedrückend und hochaktuell ist. 

Handlung 

Die Handlung wird aus der Perspektive einer namenlosen Protagonistin erzählt, einer jungen Anwältin aus São Paulo, die ein lukratives Jobangebot in der Hauptstadt Brasília erhält. Sie wird beauftragt, einen prominenten Politiker vor Gericht zu verteidigen. Schnell wird jedoch deutlich, dass dieser Auftrag weitreichendere moralische und persönliche Konsequenzen hat, als sie zunächst annimmt. 

Parallel zu ihrer beruflichen Tätigkeit wird die Protagonistin von der Geschichte von Maria da Penha verfolgt, einer jungen indigenen Frau, die jahrelang von ihrem Ehemann misshandelt wurde. Schließlich fügte er ihr bei einem Mordversuch so schwere Verletzungen zu, dass sie den Rest ihres Lebens im Rollstuhl verbringen muss. Maria da Penha ist nur eines von vielen Opfern in einer langen Reihe von Verbrechen gegen Frauen, die in Brasilien erschreckend alltäglich sind. Während die Anwältin versucht, die Umstände von Marias Ermordung zu rekonstruieren, beginnt sie, die Mechanismen von Macht, Korruption und Gewalt zu hinterfragen, die ihre Gesellschaft durchdringen. 

Themen 

Femizid und Gewalt gegen Frauen: Melo nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die Realität für Frauen in Brasilien zu schildern. Der Titel des Romans verweist bereits auf die grausame Metapher „gestapelte Frauen“, die auf die zahllosen Opfer von Femiziden anspielt. Die Anwältin wird durch ihre Recherchen mit der systematischen Missachtung von Frauenleben konfrontiert, die sowohl von der Gesellschaft als auch vom Staat toleriert wird. 

Korruption und Macht: Brasília, die Hauptstadt, wird im Roman als Symbol für politische Korruption dargestellt. Melo kritisiert das politische System, das Täter schützt und Opfer ignoriert. Dabei zeigt sie, wie patriarchale Strukturen und staatliche Ignoranz dazu beitragen, Gewalt gegen Frauen zu normalisieren. 

Indigene Frauen und soziale Ungerechtigkeit: Maria da Penha steht stellvertretend für die besonders vulnerablen Gruppen in Brasilien – indigene Frauen, die nicht nur unter geschlechtsspezifischer Gewalt, sondern auch unter ethnischer Diskriminierung und sozialer Marginalisierung leiden. 

Moralische Dilemmata: Die Protagonistin wird im Laufe des Romans immer mehr mit ihrer eigenen Verantwortung und ihren Privilegien konfrontiert. Melo stellt die Frage, wie weit man bereit ist, die Augen vor Ungerechtigkeit zu verschließen, um persönliche Vorteile zu genießen. 

Sprache und Stil 

Melo kombiniert einen nüchternen, fast dokumentarischen Erzählstil mit poetischen und manchmal brutalen Beschreibungen. Die Sprache ist präzise und auf den Punkt, was die Dringlichkeit der behandelten Themen unterstreicht. Die narrative Struktur ist fragmentarisch, was die Zerrissenheit und das innere Chaos der Protagonistin widerspiegelt. 

Die parallelen Erzählstränge – die berufliche Karriere der Anwältin, ihre persönliche Auseinandersetzung mit Marias Fall und die Darstellung der gesellschaftlichen Gewalt – verweben sich zu einem komplexen Bild von Schuld, Verantwortung und Widerstand. 

Kritik 

Stärken: Gestapelte Frauen ist ein kraftvoller Roman, der Leserinnen und Leser zwingt, sich mit unbequemen Wahrheiten auseinanderzusetzen. Melos schonungslose Analyse der brasilianischen Gesellschaft und ihre Fähigkeit, individuelle Schicksale mit systemischen Problemen zu verknüpfen, machen das Buch zu einem wichtigen literarischen Werk. 

Schwächen: Die fragmentarische Struktur und die teils kühle Distanz der Protagonistin könnten für manche Leser*innen schwer zugänglich sein. Zudem erfordert die Thematik eine gewisse emotionale Belastbarkeit, da Melo nicht davor zurückschreckt, die Gewalt explizit darzustellen. 

Fazit 

Der Roman "Gestapelte Frauen" ist eine eindringliche Anklage gegen eine Kultur der Gewalt und ein literarischer Aufschrei für Gerechtigkeit. Patrícia Melo gelingt es, individuelle Geschichten in einen größeren gesellschaftlichen Kontext einzubetten, ohne dabei den Blick auf die Menschlichkeit ihrer Figuren zu verlieren. Der Roman fordert nicht nur dazu auf, über die Gewalt gegen Frauen nachzudenken, sondern auch, sich mit den strukturellen Ursachen auseinanderzusetzen. Ein Buch, das sowohl literarisch als auch gesellschaftlich relevant ist und lange nachwirkt.

(lektüre notiz | horst g. flämig | chatGPT | januar 2025)

STIMMEN

»Patrícia Melo sprengt mit Energie und Farbe die Grenzen zwischen zwei Welten. "Gestapelte Frauen" vibriert vor Wut über die Femizide und leuchtet in halluzinatorischen Bildern von Jaguaren und Amazonen.«

Martina Läubli, NZZ 


»"Gestapelte Frauen "ist Patrícia Melos schwärzester Roman bisher und ihr bester, ein formaler und stilistischer Höhepunkt in ihrem Schaffen. Die Protagonistin findet einen Weg aus der Ohnmacht in ein selbstbestimmtes Leben. ›Literatur‹, sagt Melo, ›ist ein Raum für Widerstand‹, gerade in dunklen Zeiten. Er ist wieder notwendiger denn je.«

Dagmar Kaindl, Buchkultur