VIER | NULL | FÜNF | NEUN | EINS
mitten in wersten
folge 1
das rätsel der zitronenfrau
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möcht’ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
Johann Wolfgang von Goethe. Inspiriert vom Westufer des Gardasees
987,46 km bis zum gardasee. ein grauer novembertag. ich. im rewe. auf der grauen kölner landstraße. in düsseldorf - wersten. kurz vor ladenschluss. die warteschlangen vor den beiden geöffneten kassen musternd und analysierend. sneaker an sneaker, gezähmt geduldig wartend. hastige blicke auf die smartphone displays.
in meinem warenkorb drei survival protein riegel. und ein power system isotonic energy drink grapefruit.
linke kasse - ein viriler azubi. der etwas andere azubi. weißes hemd. chevaleresk. trend frisur. mullet haircut.
rechte kasse - eine routinierte fachfrau. sie kennt die gesichter. ihre stimmen. sie fragt nach unseren payback-karten.
ich studiere die späteinkäufer. ich scanne die inhalte der einkaufswagen. linke kasse vier junge männer. drei einkaufswagen, mager gefüllt. rechte kasse sechs junge männer, fünf einkaufswagen, magerer gefüllt.
ich. jetzt siebter kunde. rechts. ad hoc erinnerungen an die warteschlangentheorie. fünftes semester köln. institut für handelsforschung. professor koppelmann. udo. bedienrate.
originalton koppelmann: analog zur ankunftsrate definiert man die Bedienrate µ als den kehrwert der mittleren bediendauer. je länger die mittlere bediendauer, desto kleiner ist µ.
beträgt die mittlere bediendauer z.b. 3 minuten, so entspricht dies einer bedienrate von 1/3 kunden pro minute.
um es vorweg zu nehmen. ich habe mal wieder in der verkehrten warteschlange gestanden. und dafür neun semester studiert.
aber das warten birgt einen besonderen vorteil. ich studiere die kunden, den inhalt der warenkörbe. reflektiere, wie die jungen menschen leben. singles. tinder-nutzer. zumindest jeder zweite der feierabendkunden kurz vor ladenschluss.
typ eins. basketballer – craftbeer – billie eilish – sushi – etf-depot. typ zwei. vollblutveganer - avocadodinkelmus – selbstentwicklung – vinyasa – ein bisschen zartbitter schokolade. typ drei. alkoholfreihallodri – umweltschutz – freelance arbeiten – netflix – tempeh. typ vier. progressiver neo-traditionalist - lee greenwood fan - oder vielleicht doch eher reba mcentire - bio urkorn müsli - kaltduscher - bart und karohemd - geht aber nicht zum holzhaken - lumbersexuell - werkzeugkiste im schrank.
da. eine jüngere frau gesellt sich zu den ausharrenden. reiht sich in die linke fraktion ein. nicht abgekämpft und matt wirkend wie die übrigen wartenden. sie lächelt. sie wirkt fröhlich. keine hastig zusammengestellte notversorgung für den abend. typ jägerin.
im einkaufswagen eine kiste. gefüllt mit zitronen. sie hat offenbar die gesamte obstabteilung abgeräumt.
meine quick-analyse. großfamilie. nein. ein glas zitronenwasser am morgen und am abend. vielleicht. jenifer aniston und beyoncè tun es. eigene limoncello manufaktur. möglich.
gerne hätte ich den grund für den großeinkauf erfahren. aber da verschwand die zitronenfrau schon in der werstener nacht. ich habe sie nie mehr gesehen.
text: horst g. flämig | moderation LiWe
"Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der Ferne an sie denkt und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zu Muthe. Ich bin dort geboren und es ist mir, als müsste ich gleich nach Hause gehn. Und wenn ich sage nach Hause gehn, dann meine ich die Bolkerstraße und das Haus, worin ich geboren bin."
Heinrich Heine:
1827 - 1856